Früher war es üblich, dass die meisten Mitglieder der 'Roten Dschunke' Kampfkunst beherrschten. Bei ihren Auftritten trugen sie stets dick aufgetragenes Make-up, um ihre wahre Identität zu verbergen. Daher arbeitete auch der buddhistische Meister Chi Shin, einer der fünf Älteren des Shaolin-Klosters, getarnt als Koch auf dem Schiff. Lange Zeit gelang es ihm, unerkannt zu bleiben, unterstützt von denen auf der Dschunke, die seine wahre Identität kannten. Die Manchu-Regierung war ihnen allen ein Dorn im Auge. Chi Shin plante ihren Sturz und galt deshalb als Held. Er unterrichtete sie in der Kunst des Shaolin-Kung-Fu, um sie auf Auseinandersetzungen mit den Manchu-Soldaten vorzubereiten. Besonders erwähnenswert unter Chi Shins Schülern war Leung Yee Tei. Er war kein Schauspieler, sondern ein Seemann auf der 'Roten Dschunke', der geschickt das Schiff mit einer langen Stange lenkte. Daher interessierte er sich besonders für die Langstock-Technik, die Chi Shin beherrschte. Chi Shin, einer der wenigen Experten im Langstock-Kampf, hielt Leung Yee Tei für würdig und lehrte ihn diese Technik.
Jetzt zu Wong Wah Bo, der ebenfalls auf der 'Roten Dschunke' arbeitete. Er bewunderte Leung Yee Teis Fertigkeiten im Umgang mit dem Langstock, während Leung Yee Tei seinerseits das waffenlose Wing-Tsun-System bewunderte. So tauschten sie ihre Kenntnisse aus und lernten voneinander. Dadurch wurde das Wing-Tsun-System um verbesserte Techniken im Umgang mit dem Langstock erweitert. Wong Wah Bo und Leung Yee Tei verfeinerten das System und entwickelten die Trainingsmethode des ChiSao, die neben der Doppelmesser-Technik (Bart-Cham-Dao) nun auch die verbesserte Langstocktechnik integrierte.
Leung Jan – der „König des Wing Tsun
Im fortgeschrittenen Alter übertrug Leung Yee Tei die Kunst des Wing Tsun an Leung Jan, der als 'König des Wing Tsun' bekannt wurde. Leung Jan war ein angesehener Arzt in Fatshan, einer der vier berühmten Städte der Provinz Kwantung im Süden Chinas. Fatshan, ein wichtiger Handelsknotenpunkt am Perlenfluss, zog Regierungsbeamte, wohlhabende Kaufleute, Arbeiter und das gewöhnliche Volk gleichermaßen an.
Leung Jan führte dort eine Kräuter-Apotheke und genoss als einfühlsamer und kultivierter Arzt großes Vertrauen in der Gemeinschaft. Neben seiner medizinischen Arbeit widmete er sich in seiner Freizeit der Kampfkunst. Auf der Suche nach einem praktischen und effektiven Stil hatte er viele Jahre lang keinen geeigneten Lehrer gefunden, bis er auf Leung Yee Tei traf und das WingTsun-System erlernte.
Leung Jans Geschicklichkeit im Wing Tsun brachte ihm bald den Titel 'Kung-Fu-König des Wing Tsun' ein. Er verteidigte diesen Titel erfolgreich gegen zahlreiche Herausforderer und erlangte dadurch großen Ruhm. Selbst heute erinnert sich die ältere Generation der Kung-Fu-Künstler voller Bewunderung an Leung Jan.
Wah der Geldwechsler
Wegen seines wohlhabenden Lebensstandes nahm Leung Jan nur wenige Schüler auf, primär um Trainingspartner zu haben. Unter ihnen waren seine beiden Söhne, Leung Tsun und Leung Bik. Nachdem er seine Apotheke geschlossen hatte, widmete er sich jeden Abend dem Unterricht von Wing-Tsun. Einer seiner bemerkenswerten Schüler war bekannt als Wah der Holzmann, dessen Arme so hart wie Holz waren und der sogar die Arme der Holzpuppe beim Training zerbrach.
Direkt neben seiner Apotheke befand sich der Stand eines Geldwechslers namens Chan Wah Shun, der eine starke Leidenschaft für Kung-Fu hegte. Obwohl er sehr gerne Schüler von Leung Jan werden wollte, fürchtete er eine Ablehnung. Daher beobachtete er heimlich jeden Abend den Wing-Tsun-Unterricht genau. Sein Verlangen, Wing-Tsun zu erlernen, wuchs täglich. Schließlich fasste er den Mut und sprach Leung Jan an, doch er wurde wie erwartet abgewiesen. Dennoch gab Chan nicht auf und hatte bereits einen Plan.
Eines Tages, als Leung Jan nicht da war, brachte Wah der Holzmann einen Fremden mit zum Training – Chan Wah Shun, der sich zuvor mit Wah angefreundet hatte und sogar von ihm Privatunterricht erhalten hatte. An diesem Tag leitete Leung Jans jüngerer Sohn, Leung Tsun, das Training. So erfuhr er, dass Chan schon seit langem das Training heimlich beobachtet und gelernt hatte. Leung Tsun entschied sich, Chan sofort zu prüfen, um zu sehen, was er konnte. Obwohl Leung Tsun nie besonders hart trainiert hatte, war Chan Wah Shun stärker und schleuderte ihn auf den geliebten Sessel seines Vaters, wobei ein Stuhlbein brach. Trotz Reparaturversuchen kam letztendlich alles ans Licht.
Meister Leung Jan konfrontierte seinen Sohn Leung Tsun, der schließlich alles gestand. Wah der Holzmann wurde vom Meister getadelt, da es falsch war, ohne Erlaubnis zu unterrichten, und Leung Jan ließ den Geldwechsler holen. Zu seiner Überraschung wurde Chan Wah Shun vom Meister geprüft und als Schüler angenommen. Sein Mut und seine Willensstärke hatten Leung Jan beeindruckt.
der Lehrer Yip Mans
Chan Wah Shun, der Geldwechsler, wurde zum Nachfolger von Leung Jan ernannt, während seine Söhne nicht berücksichtigt wurden, da im chinesischen Kung-Fu die Leistung zählt und nicht eine erbliche Thronfolge besteht. Daher wurde auch nicht Chan Wah Shuns Sohn Chan Yu Min sein direkter Nachfolger, sondern Yip Man. Es waren auch nicht Yip Mans Söhne, die Wing-Tsun weltweit bekannt machten, sondern Leung Ting. Obwohl Leung Tings Sohn ebenfalls Kung-Fu praktiziert, gibt es auch hier keine automatische Thronfolge vom Vater auf den Sohn.
Chan Wah Shun gründete keine eigene Schule, sondern mietete nach Bedarf Räume. Während seiner 36-jährigen Lehrzeit hatte er insgesamt nur 16 Schüler. Sein Sohn Chan Yu Min war ein verzogenes Kind und geriet später in kriminelle Kreise, weshalb Chan Wah Shun ihm die fortgeschrittenen Wing-Tsun-Techniken nicht beibrachte. Stattdessen unterwies er seine Schwiegertochter darin, die dadurch viel geschickter wurde als Chan Yu Min. Später musste Chan Yu Min von seiner Frau lernen, was sein Vater ihm verwehrt hatte. Dennoch war Chan Yu Min besonders geschickt im Umgang mit dem Langstock und errang den Titel 'Langstock-König' bei einem Kampfkunstturnier der sieben Provinzen. Als Sieger erhielt er einen monumentalen Langstock, auf dem sein Name und Titel eingraviert waren. Jahre später, als er seine eigene Schule gründete, platzierte er diesen Langstock über der Tür als Werbung.
Yip Man
Yip Man galt nicht nur unter seinen Anhängern, sondern in der gesamten Kung-Fu-Welt als Großmeister. Er war nicht am Ruhm und Reichtum interessiert und verabscheute das arrogante Auftreten mancher Kung-Fu-Leute. Wer Yip Man kennenlernte, fühlte sich sofort wohl in seiner Gesellschaft. Er war herzlich, aufrichtig und gastfreundlich – man könnte ihn als Gelehrten und Gentleman bezeichnen. Obwohl er aus einer angesehenen Familie stammte und als reicher Eigentümer eines großen Gutshofs sowie einer ganzen Straße mit Häusern ein angenehmes Leben hätte führen können, entwickelte Yip Man schon früh eine Liebe für die Kampfkunst. Für einen gebildeten Chinesen war es jedoch nicht standesgemäß, Kung-Fu als Hobby zu betreiben. Wie im Westen das Boxen oder Ringen galt dies als Zeitvertreib der unteren Schichten, im Gegensatz zum japanischen Karate. Daher waren die meisten Wing-Tsun-Lehrer beispielsweise Kellner oder Köche, die die Theorie weder richtig verstanden noch weitervermitteln konnten. Yip Man war eine glückliche Ausnahme.
Im Alter von 11 Jahren erhielt er Kung-Fu-Unterricht von Chan Wah Shun (Wah der Geldwechsler), einem Lieblingsschüler von Großmeister Leung Jan in Fatshan aus der Provinz Kwangtung. Chan Wah Shun hatte keine eigenen Unterrichtsräume und mietete bei Bedarf Räumlichkeiten. Yip Mans Vater stellte ihm den alten Familientempel des Yip-Clans zur Verfügung. Aufgrund des hohen Schulgeldes hatte Chan nur wenige Schüler. Als Sohn des Vermieters kam Yip Man leicht in Kontakt mit Chan. Beeindruckt von Wahs Technik beschloss er, Wing-Tsun von ihm zu lernen. Anfangs unterrichtete Chan Wah Shun ihn nur halbherzig, da er Yip Man für einen zu zarten Gentleman hielt. Dennoch lernte Yip Man viel und konnte letztendlich Wahs Vorurteile abbauen, sodass Wah ihn ernsthaft unterrichtete. Während seiner 36-jährigen Unterrichtszeit hatte Wah insgesamt nur 16 Schüler, einschließlich seines eigenen Sohnes Chan Yu Min. Yip Man war der jüngste von ihnen. Als Wah starb, war Yip Man 16 Jahre alt und studierte bereits in Hongkong am St. Stephen's College.
In Hongkong
Während Yip Mans Studienzeit in Hongkong wurde ihm ein über 50 Jahre alter Mann vorgestellt, der sich mit ihm austauschen wollte – eine Herausforderung, die der selbstbewusste junge Mann, der Niederlagen nicht kannte, gern annahm. Der Mann wusste, dass Yip Man ein Schüler von Chan Wah Shun war und spielte regelrecht mit ihm dank seines überlegenen Kung Fu.
Später erkannte Yip Man, dass der ältere Mann Leung Bik war, der jüngste Sohn von Großmeister Leung Jan aus Fatshan und somit der Si-Fu von Chan Wah Shun, dem Geldwechsler. Dieser Meister war also sein Onkel. Als Yip Man erfuhr, dass sein Si-Fu nicht mehr lebte, wollte er sein Studium bei Leung Bik fortsetzen. Leung Bik erkannte das Potential des jungen Mannes. Yip Man folgte ihm viele Jahre und lernte alle Geheimnisse des Wing-Tsun. Im Alter von 24 Jahren kehrte Yip Man dann als wahrer Meister des Wing-Tsun in seine Heimatstadt Fatshan zurück.
Wieder in Fatshan führte Yip Man das unbeschwerte Leben eines reichen Sohnes. Er hatte viel Zeit, mit seinem Si-Hing Ng Chung So und dessen Schüler Yuen Kay Shan Wing-Tsun zu praktizieren, sodass er immer besser wurde. In Fatshan stellte Yip Man beunruhigenderweise fest, dass er viel besser als seine älteren Kollegen war. Seine Mitschüler vermuteten, dass Meister Chan Wah Shun ihnen etwas nicht unterrichtet hatte. Daher wurde Yip Man beschuldigt, von der „wahren Lehre“ des Wing-Tsun abgewichen zu sein. Leung Ting, der die „weiche Technik“ als Privatschüler von Yip Man erlernte, sah sich später denselben Vorwürfen ausgesetzt. Es gab viele Auseinandersetzungen zwischen Yip Man und seinen Si-Hings. Glücklicherweise konnte der Sachverhalt verständlich geklärt werden.
Obwohl Chan Wah Shun ein großer Könner war und alles praktisch beherrschte, fehlte ihm die wissenschaftliche Vorbildung, um die komplexe Theorie des Wing-Tsun zu erklären. Leung Bik, der Sohn ihres Kung-Fu-Großvaters, war dagegen nicht nur ein Wing-Tsun-Experte, sondern auch ein Gelehrter. Deshalb konnte er Yip Man die wichtigen Theorien des Wing-Tsun genauestens erklären. Das Einhalten der „Zentrallinie“ wurde als das Wichtigste bezeichnet, doch offenbar konnte niemand außerhalb der Leung-Ting-Schule diese richtig definieren.
Um Wing Tsun zu fördern, wurde die „Hong Kong Ving Tsun Athletic Association“ gegründet. Zwei Jahre später, 1969, schickte der Verband ein Team von Kämpfern zum „First South East Asia Kung-Fu-Tournament“ in Singapur. Das Team schnitt jedoch nicht erfolgreich ab. Daraufhin kehrte Yip Man zurück, eröffnete mehr Klassen und senkte die Unterrichtsgebühren. Dadurch konnten nicht nur Privilegierte Wing Tsun lernen, was zu einem starken Zustrom führte. Als der Unterricht zufriedenstellend war, zog sich Yip Man endgültig zurück und übergab seine Schule samt Schülern seinem Lieblingsschüler Leung Ting.
Den Rest seines Lebens wollte er ruhig und zurückgezogen verbringen. Man fand ihn oft im Teehaus, wo er mit seinen Schülern scherzte. Er nahm sich selbst nicht so wichtig und meinte, andere sollten entscheiden, ob er etwas geleistet habe. Zwischen 1970 und 1971 wurde Bruce Lee, einer von Yip Mans Schülern, ein berühmter Filmstar. Obwohl Lee als Begründer seines eigenen Stils „Jeet Kune Do“ bekannt wurde, wussten viele, dass er ein Schüler Yip Mans gewesen war. Lee bildete sich darauf nichts ein und lächelte nur, wenn Leute ihn darauf ansprachen.
Unter den Schülern Yip Mans war Bruce Lee wohl der bekannteste. Bruce Lee traf Großmeister Yip Man in Hongkong, als er das St. Francis College besuchte. Bruce Lees Vater, Lee Hoi Chuen, war ein guter Freund Yip Mans. Beide waren Flüchtlinge aus Fatshan. Da sich beide gut verstanden und Bruce Lee sehr ehrgeizig war, gab Yip Man sich bei ihm besondere Mühe. Nach knapp drei Jahren verließ Bruce Lee jedoch Hongkong und ging nach Amerika, um ein akademisches Studium zu beginnen.
Vor seiner Abreise ermahnte Yip Man Bruce Lee, dass Kung Fu zu den höchsten chinesischen Künsten gehöre und er diese Techniken für sich behalten solle. Bruce Lee versprach es. Allerdings, nach der Eröffnung seiner ersten Kampfschule in Amerika, nahm er ausländische Schüler auf und brachte ihnen Wing Tsun-Techniken bei. Großmeister Yip Man war darüber erstaunt und enttäuscht.
Bruce Lees Vision
Im Sommer 1965 kehrte Bruce Lee mit seiner Frau und seinem Sohn nach Hongkong zurück. Dort besuchte er seinen Meister und bat darum, ihm den letzten Teil der Wing Tsun Holzpuppen-Technik beizubringen, den er noch nicht gelernt hatte. Außerdem bat er Yip Man um Erlaubnis, einen 8-mm-Film zu drehen, auf dem Yip Man die Siu Nim Tau Form demonstrierte. Bruce Lee benötigte diesen Film für seinen eigenen Unterricht in Amerika. Als Gegenleistung bot er dem Großmeister eine Eigentumswohnung an. Bruce Lee sprach jedoch nur über das Geld, was Yip Mans Gefühle verletzte, und er lehnte ab. Nach dieser Zurückweisung wandte sich Bruce Lee an Yip Mans älteren Sohn, der ihm bestätigte, dass sie seit ihrer Ankunft in Hongkong in Armut und Not lebten und nicht einmal ein eigenes Haus hatten. Dennoch konnte auch er Yip Man nicht umstimmen.
Bruce Lee und Jeet Kune Do
Enttäuscht kehrte Bruce Lee nach Amerika zurück und unterrichtete fortan kein Wing Tsun mehr. Stattdessen gründete er seinen eigenen Stil, Jeet Kune Do. Obwohl Jeet Kune Do hauptsächlich aus Wing Tsun-Techniken kombiniert mit Elementen aus Taekwondo, Karate, westlichem Boxen, Judo, nördlichem Gottesanbeterin-Kung-Fu und anderen Disziplinen bestand, verbreitete er seine Theorien vor allem in Zeitschriften, Büchern und Magazinen. Diese Theorien waren stark von Wing Tsun und chinesischer Philosophie wie dem Taoismus geprägt, ergänzt durch Gedanken aus dem westlichen Boxen und Judo.
Als Bruce Lee durch Jeet Kune Do berühmt wurde, sprach Yip Man nicht mehr über ihn. Ihre Lebensanschauungen waren einfach zu unterschiedlich. Yip Man war traditionell chinesisch erzogen und ein Anhänger des Konfuzianismus. Er liebte die chinesische Kultur, war sehr willensstark und ertrug Schicksalsschläge stoisch, obwohl er stets in bescheidenen Verhältnissen lebte und mit seinem Leben zufrieden war. Bruce Lee hingegen war schon durch seine Ausbildung an einer englischen Schule in Hongkong geprägt, bevor er sein Philosophie-Studium in den USA begann. Für ihn waren materielle Dinge wichtig, und er strebte nach Ruhm und Reichtum, was er auch erreichte. Doch bei seinem Tod konnte er nichts davon mitnehmen.
Im Jahr 1972 erhielt Yip Man die Diagnose Kehlkopfkrebs, dennoch bewahrte er Optimismus und Willenskraft. Er besuchte weiterhin das Teehaus und genoss abends Mahlzeiten mit seinen Schülern.
Am 2. Dezember 1972 verstarb Yip Man, der letzte Großmeister des gesamten Wing Tsun Stils. Er hinterließ uns ein herausragendes Kampfsystem und zahlreiche faszinierende Anekdoten.